Tora: Mit KI neue Zugänge schaffen
von 42 Heilbronn
Die Tora ist für Millionen von Menschen weit mehr als ein verstaubtes Buch aus ferner Zeit. Das Werk gibt ihnen Kraft und Orientierung, auch und gerade in Alltagsfragen. Dumm nur, dass das Tora-Studium nicht ganz einfach ist, einzelne Aspekte höchst unterschiedlich interpretiert werden und es zu allem Überfluss laufend neue Ergänzungen und Kommentare gibt. Antoine Leboyer, Managing Director am TUM Venture Lab in München, baut nun zur besseren Orientierung eine Künstliche Intelligenz (KI) für das Torastudium auf. Dabei erschließt die Technologie vielschichtige Quellen und liefert durchdachte Antworten auf alle möglichen Fragen.
Antoine, wie kommt man darauf, eine KI für die Tora zu schreiben?
Wer sich schon einmal mit jüdischen Texten befasst hat, weiß: Das kann extrem herausfordernd sein. Man kann leicht Dutzende bis Hunderte von Kommentaren zu jedem Absatz finden, die jeweils unterschiedliche Auslegungen widerspiegeln. Für Menschen mit wenig Vorerfahrung ist es überwältigend, sich darin zurechtzufinden. Mein großes Anliegen war es, gerade ihnen einen leichten Zugang zu ermöglichen und sie damit für die Tora zu begeistern. Ich selbst gehe immer wieder in religiöse Texte. Etwa, um wichtige Alltagsfragen für mich zu klären, aus reiner Freude am Lernen, oder auch, weil ich verstehen will, wie bestimmte Rituale und Regeln entstanden sind. Im Frühjahr 2023 ging ich gerade einer sehr komplexen Frage nach – ich wollte wissen, warum das jüdische Gesetz zwei Zeugen für eine gültige Zeugenaussage verlangt – und hatte Schwierigkeiten, weitere Dokumente zu finden, um wirklich tiefer zu gehen. Zu dieser Zeit kam die Revolution rund um Generative KI ins Rollen. Eine Idee begann in mir zu wachsen: eine KI als ein Art Navigationssystem für das Tora-Studium. Eine KI, die dabei unterstützt, sich in der Vielzahl an Texten zurecht zu finden. Wenig später hatte ich die Gelegenheit, mit Sam Altmann während seiner Welttour über meine Überlegungen zu sprechen. Er war sehr positiv, und das hat mich noch mehr angespornt.
Das klingt nach einem sehr persönlichen Projekt.
Es ist ein echtes Herzensprojekt! Und ich darf hinzufügen, dass es auch in der Familie liegt. Wenn man meinen Stammbaum um rund 300 Jahre zurückgeht, trifft man auf den jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn. Sein Einfluss zur Zeit der Aufklärung war fundamental. Er trat dafür ein, dass die Staatsbürgerschaft allen Menschen unabhängig von ihrer Religion zugestanden wird – gerade auch Jüdinnen und Juden. Wie wir wissen, war das damals nicht selbstverständlich. Er übersetzte außerdem die Tora ins Deutsche, um sie für alle zugänglich zu machen. Natürlich will ich nicht behaupten, dass meine Arbeit mit der Relevanz seines Werks vergleichbar ist. Vielleicht aber, dass ich mich in die Tradition dieser Geisteshaltung einreihe: Wir vertreten eine ähnliche Einstellung zu Religion, weil ich glaube, dass religiöses Wissen allen Menschen zugänglich sein muss und dass Innovation dabei helfen kann.
Wie zeigt sich das in der KI?
Nutzerinnen und Nutzer können mit der KI chatten und ihre Fragen rund um die Tora stellen, ähnlich wie bei ChatGPT. Ein wesentlicher Unterschied ist aber, dass wir auf eine Frage nicht eine Antwort geben, sondern verschiedene Perspektiven aufzeigen, von streng orthodox bis progressiv. Jeder dieser Perspektiven ist dann eine Quellenangabe beigefügt, sodass Menschen nach einer ersten Orientierung vertieft in die Texte einsteigen können. Außerdem ist es uns gelungen, eine sehr zuverlässige KI zu schaffen, die die neuesten Technologien nutzt. Eine davon ist die sogenannte Retrieval Augmented Generation, kurz RAG: Sie ermöglicht eine Vorauswahl der relevantesten Dokumente, bevor diese analysiert werden. So können wir das klassische Risiko von Halluzinationen, bei denen eine KI mit scheinbar großer Autorität eine völlig falsche Antwort gibt, deutlich verringern.
Werden Rabbis dadurch künftig nicht überflüssig?
Diese Frage wird uns von vielen Menschen aus der jüdischen Community gestellt. Die kurze Antwort lautet: Nein, KI kann den Menschen nicht ersetzen und auch nicht die Unterstützung, die man in der Gemeinschaft findet. Aber sie kann das Lernen über unsere Texte erleichtern und dazu beitragen, dass man sich in einer Synagoge wohlfühlt.
Wo steht Ihr aktuell in der Entwicklung?
Gerade sind wir noch in der Pilotphase mit rund 250 Personen aus der ganzen Welt. Am Anfang hätte ich nicht erwartet, dass sich daraus eine wirklich tolle Gruppe entwickeln könnte. Unter den Testpersonen finden sich alle von interessierten Anfängerinnen und Anfängern bis hin zu hochkarätigen Forscherinnen und Forschern. Sie können ihre Fragen an die KI gegenseitig einsehen. Manche sind sehr aktiv und nutzen die KI beinahe täglich, andere lassen sich eher von den Überlegungen der anderen inspirieren. Darunter sind auch viele sehr lebensnahe Fragen. Ein Beispiel: Jemand hat gefragt, was die Tora empfiehlt, wenn man in einem interkulturellen Team arbeitet. Wie geht man etwa mit Differenzen um und wie kann man einander respektvoll begegnen? Mich freut sowas sehr, denn genau das soll Religion schließlich tun: neue Wege im Alltag aufzeigen. Unser nächster Schritt ist es dann, die Anwendung auf der Seite von Sefaria, einem unserer Projektpartner aus Israel mit einer Reichweite von über einer Millionen Menschen, zu veröffentlichen. Und wenn Sie jetzt Interesse haben, an dem Pilotprojekt teilzunehmen, melden Sie sich bitte bei mir.
Wer ist an dem Projekt beteiligt?
Wir sind insgesamt fünf Personen, die das Projekt in ihrer Freizeit vorantreiben. Und wenn ich das an dieser Stelle hinzufügen darf: Dieser kontinuierliche Einsatz für das Projekt – das aus reiner Großzügigkeit vorangebracht wird – berührt mich gerade heute sehr. Ich stelle momentan fest, dass antisemitische Haltungen an so vielen Orten auf der Welt plötzlich wieder salonfähig geworden sind. Und wir sind alle vielbeschäftigte Unternehmer… Aber zurück zum Team: Zu Beginn war für mich der Kontakt zur jüdischen Community wichtig. Ich habe schnell Kontakt zu Sefaria aufgenommen – einer tollen Organisation, die jüdische Texte in einer großen Online-Bibliothek kostenlos für alle zur Verfügung stellt. Für die technischen Aspekte bekamen wir großartige Unterstützung vom Münchner appliedAI Institute, das auch Teil der UnternehmerTUM und Dieter-Schwarz-Stiftung ist.
Im Januar bist Du auch an der 42 zu Gast. Worauf freust Du dich besonders?
Ich war schon einmal vor Ort an der 42 und fand, dass dort eine enorme Dynamik und eine Offenheit für verschiedene Denkweisen vorherrschen. Die Studierenden lernen, wirklich neue Lösungen zu entwickeln. Ich hoffe, dass jeder, der dort etwas über KI lernt, später auch darüber nachdenkt, Unternehmerin oder Unternehmer zu werden. Deswegen freue ich mich darauf, mit den Studierenden ins Gespräch zu kommen – besonders darüber, wie man mit Risikokapitalgebern umgeht. Es wäre toll, viele Leute dort zu sehen!
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