DIGITAL ANGEZÄHLT: WAS DEUTSCHLAND TUN SOLLTE, UM DEN ANSCHLUSS NICHT ZU VERLIEREN
von Sophie Heinz
"Wer sich nicht digitalisiert, wird ausgeknockt", soll Wladimir Klitschko einst gesagt haben. Geht es nach dem European Center for Digital Competitiveness, dann ist Deutschland zumindest angezählt. Die Organisation hat Anfang September den "Digital Riser Report 2020“ vorgelegt und darin die digitale Wettbewerbsfähigkeit von 140 Ländern verglichen. Das Ergebnis: In der Gruppe der Sieben befindet sich Deutschland auf dem vorletzten Platz, in der G20 sind wir auf den 16. Platz abgerutscht. Im europäischen und nordamerikanischen Vergleich findet man uns weit abgeschlagen auf Platz 24 - von 36. Auch wenn es nicht überrascht: für eine große Industrienation, in der das Thema zudem täglich in der Diskussion ist, sind die Ergebnisse ernüchternd. Was ist passiert?
GERMANY: MINUS 52 POINTS
Die Studie definiert zwei Kerngrößen, anhand derer sie die Wettbewerbsfähigkeit bestimmt: das 'Ecosystem' – etwa Hürden bei der Unternehmensgründung, staatliche Investitionen oder das Angebot staatlicher Förderprogramme - und das 'Mindset', darunter die Einstellung zu unternehmerischen Risiken, der digitale Bildungsstand und die Diversität der Arbeitskräfte. Schaut man sich die einzelnen Kategorien an, hakt es bei uns an allen Ecken und Enden. Im Gegensatz zu Frankreich, Saudi-Arabien und den Philippinen, den großen Aufsteigern, hat Deutschland in beiden Kerngrößen deutlich an Boden verloren: nach der Rechnung der Studie insgesamt 52 Punkte. Politik und Ministerien sind sich einig, dass wir unsere digitale Transformation vorantreiben sollten, allerdings mangelt es noch an der Umsetzung.
Einerseits werden mit der Blue Card ohne große Probleme ausländische Fachkräfte eingestellt, andererseits bremsen traditionelle Industriezweige wirkliche Transformation oft aus, weil Prozesse zu langsam sind, siehe Automobilbranche. Aber Deutschland hat auch in der Vergangenheit bereits gezeigt, dass es ein funktionierendes Gesundheits- und Sozialsystem hat, das sich in der Corona Krise bewährt hat und international anerkannt wurde. All das sollten wir als unsere Stärke sehen und daraus Selbstbewusstsein für die digitale Wende schöpfen. Wie können wir uns digitaler und mobiler aufstellen, unternehmerischer denken und mehr neue Technologien effizient einsetzen? Wie können sich mehr Menschen für neue Technologien und das Programmieren begeistern und sich darin so ausbilden lassen, dass sie die digitale Zukunft Deutschlands mitgestalten können?
BESTANDSWAHRUNG STATT ZUKUNFTSGESTALTUNG
"Anders als in Frankreich gibt es in Deutschland keinen strategischen Plan für die Digitalisierung", kritisiert Prof. Dr. Philip Meissner, einer der Autoren der Studie, im Handelsblatt.1 Während unser Nachbarland mit 'La French Tech' ein kraftvolles Leuchtturmprojekt aufgesetzt habe, gebe es in Deutschland zwar viele Fördermaßnahmen, doch diese seien in hohem Maße unübersichtlich. Zudem liege der Fokus auf großen Industrieprojekten. Ein digitales Mindset? Fehlanzeige.
„Wir befinden uns in der gegensätzlichen Bewegung zu der, in der wir eigentlich unterwegs sein sollten“, erklärte auch die Kommunikationswissenschaftlerin und Publizistin Miriam Meckel vor kurzem im Podcast ‚Steingarts Morning Briefing'.2 Der Fokus liege in einer alternden Gesellschaft wie unserer auf Bestandswahrung, nicht auf Zukunftsgestaltung. Es fehle der Mut für Neuerungen. Dabei sei ständige Anpassungsfähigkeit heute die Grundvoraussetzung für Erfolg: "Es gibt nur die dauerhafte Veränderung." In einer immer komplexer werdenden Welt müsse man zudem Widersprüchlichkeiten aushalten: Was einmal galt, überlagert sich mit dem, was morgen gilt.
Auch traditionelle Bildungswege sind für die meisten Studenten und Unternehmen oft noch der bevorzugte Bildungs- und Abschlussweg. In Deutschland gibt es immer noch zu wenig gut ausgebildete Tech-Experten, die Unternehmen durch die digitale Transformation führen können. Auch hier sollten neue Lernkonzepte, wie z.B. das Peer-to-Peer-Learning und projektbasierte Ausbildungsmodelle, eingeführt und genutzt werden, um mehr Coder*innen auf den Markt zu bringen.
OK, UND NUN?
Was also haben die 'top digital risers' richtig gemacht? Die Maßnahmen lassen sich grob wie folgt zusammenfassen: Zunächst wurde ein Umfeld geschaffen, dass Start-ups begünstigt. In Frankreichs Sozialverwaltung etwa gibt es einen speziellen Ansprechpartner für Tech-Unternehmen, die dort bevorzugt bedient werden. Der zeitliche und finanzielle Aufwand für Unternehmensgründungen wurde so deutlich verringert. Mit dem French Tech Visa ist es - ähnlich wie der deutschen Blue Card - möglich, ohne großen Aufwand Mitarbeiter*innen aus dem Ausland zu gewinnen. Saudi-Arabien investierte massiv in seine Digitalwirtschaft, um deren Leistungsvermögen zu steigern und ausländische Investoren sowie führende Technologieunternehmen anzulocken. Die Philippinen verbesserten mit viel Kapital, Wissen und Fördermöglichkeiten die Bedingungen für Start Ups. Entrepreneurship wird außerdem als Lehrinhalt ins Bildungssystem integriert.
Was den Aufsteiger gemeinsam ist: Sie investieren intensiv und entschlossen in digitale Bildung und Bildungskonzepte, die auf die permanente Veränderung vorbereiten. Ein Ergebnis davon ist auch die 42 Coding School, die 2013 bereits in Frankreich gestartet ist. Mit Peer-to-Peer Learning setzen solche Konzepte genau da an, wo Deutschland derzeit noch aufhört. Den Studierenden wird neben dem Coding vor allem die Fähigkeit vermittelt, sich immer wieder auf neue Bedingungen einzustellen. Neben Fachkenntnissen im Coden und analytischem Denken werden vor allem wichtige Soft Skills vermittelt: Flexibilität, die Fähigkeit, kritisch zu denken, der kreative Umgang mit Problemen. Im Zentrum steht auch hier die Erkenntnis, dass unser Wissen ständig zunimmt und sich verändert. Lebenslanges Lernen ist vor diesem Hintergrund ein existentiell wichtiger Prozess, um mit Mut und Zuversicht in die Zukunft gehen zu können. Hoffen wir, dass Deutschland sich noch einmal fängt.
Corona hat die Notwendigkeit digitaler Transformation für Unternehmen und auch für das deutsche Bildungssystem noch einmal verdeutlicht. Wir sollten das zum Anlass nehmen, Studiengänge und Ausbildungen neu zu denken, um mehr Menschen für eine Karriere in Berufen im IT-Kontext zu begeistern - und ihnen das Rüstzeug mitzugeben, mit dem sie die digitale Transformation erfolgreich mitgestalten können.
Was heißt das für jeden einzelnen, sowie für Politik, Wirtschaft und Bildung in Deutschland?
Verkrustete Strukturen und altes Verhalten sollten daher aufgebrochen werden, denn wo wir früher mit Stabilität und erprobten Prozessen geglänzt haben, überholen uns heute andere mit ihrer Flexibilität und dem Mut, neue Wege zu gehen. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen und die eigene Komfortzone verlassen – als Land, als Unternehmen und als Individuen. Wir sollten auch den Mut haben, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. Wir brauchen mehr Personen, die wirklich etwas bewegen und neue Wege im Lernen gehen wollen. Denn am Ende ist der einzige Hebel, den man hat, man selbst.
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