„Der Bildungscampus? Wir haben da eine Lernkurve durchlebt.“
von 42 Heilbronn
Größere Fläche, neue Gebäude, mehr Studierende – der Bildungscampus wächst und auch das Ipai als Europas künftiges KI-Zentrum nimmt Form an. Ein Gespräch mit Yvonne Zajontz, Professorin für Markt- und Medienforschung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) und Reinhold Geilsdörfer, Geschäftsführer der Dieter Schwarz Stiftung über Monotonie am Campus, Wohlstand als Droge und warum Knorr-Kochnachmittage eine Inspiration sind.
Heilbronn entwickelt sich zur Wissensstadt. Wie nehmen Sie das Tempo wahr?
Reinhold Geilsdörfer: Die Schlagzahl ist tatsächlich hoch. Das muss auch so sein, immerhin wollen wir mit dem Ipai innerhalb weniger Jahre eines der großen Ökosysteme für Künstliche Intelligenz in Europa aufbauen. In Heilbronn soll zukünftig das Who-is-Who der KI-Szene zusammenkommen und hochinnovative Forschung und Entwicklung in dem Bereich hervorbringen. Ziel ist es, zu den großen KI-Zentren in Europa, Asien und den USA aufzuschließen. Und da spielt der Bildungscampus als Wissensschmiede und Magnet für junge Menschen aus aller Welt eine wichtige Rolle. Wir wollen hier dringend wachsen, von den aktuell gut 7.500 Studierenden auf 15.000 oder mehr. Deshalb erweitern wir den Campus konsequent und ich denke, dass wir da gut vorankommen.
Yvonne Zajontz: Das stimmt, der Bildungscampus wächst in einem hohen Tempo. Aber wir dürfen uns nicht nur auf die scheinbar harten Faktoren – Anzahl der Studiengänge, der Professorinnen und Professoren, der Studierenden – konzentrieren. Wenn es darum geht, nicht nur Masse, sondern auch Klasse für Heilbronn zu gewinnen, dann müssen wir die weichen Standortfaktoren mitdenken. Diese zu verbessern, dauert oftmals länger, als einen Bauantrag durchzubekommen und Richtfest zu feiern.
Weiche Standortfaktoren: Was ist damit konkret gemeint?
Zajontz: Weiche Standortfaktoren umfassen letztlich alle Aspekte, die das Leben an einem Ort als lebenswert erscheinen lassen. Die Lebensqualität ist das Betriebssystem einer Stadt. Wenn wir jetzt an junge Studierende denken, dann fallen Begriffe wie Clubszene, Kleinkunst, Begegnungsräume, an denen man mit Freundinnen und Freunden eine gute Zeit verbringen kann. Zudem bedarf es Freiräume, um sich auszuprobieren. Da berühren wir sehr leicht auch Fragen der Geisteshaltung in der Stadtgesellschaft: Kann man es ertragen, wenn am Neckar bis spät in die Nacht gefeiert wird? Wollen wir offen sein, und zum Beispiel Speisekarten auch auf Englisch anbieten? Unterstützt man so etwas als Stadt, indem man endlich eine Nachtbuslinie betreibt? Und natürlich muss man auch den Campus kritisch hinterfragen, ob er aus der Perspektive der weichen Standortfaktoren genug bietet.
Herr Geilsdörfer, die Stiftung plant und finanziert den Bildungscampus seit jeher. Welchen Blick haben Sie darauf?
Geilsdörfer: Wir haben da durchaus eine Lernkurve. Der jetzige Campus bietet zwar hochwertige, architektonisch großartige Gebäude, aber die beherbergen eigentlich nur Vorlesungs- und Seminarräume. Bei der Entwicklung hatten wir seinerzeit die Zielgruppen zu wenig einbezogen. Mit der Campuserweiterung wird es aber deutlich anders. Da sehen wir einen Mix aus studentischem Wohnen, Lehre, Freizeit, Sport und Handel vor. Wir wollen da einen Ort zum Leben schaffen. Und wenn eine Studentin oder ein Student aus dem Ausland hierherkommen will, dann sollen Enthusiasmus und ein Koffer als Gepäck reichen – Bett und Zimmer werden dann schon organisiert.
Das ist tatsächlich ein neuer Ansatz. Laufen Sie dann aber nicht Gefahr, eine akademische Enklave zu schaffen?
Geilsdörfer: Die Gefahr besteht, ja. Unser Oberbürgermeister Harry Mergel sagt immer, der Bildungscampus, das Ipai und alles, was dazugehört – das sei für viele Menschen abgehobenes Zeug aus einem 20. Stockwerk. Da hat er nicht so unrecht, das liegt auch in der Stadtgeschichte begründet. Heilbronn war immer Industrie, das prägt das Bewusstsein und die Wahrnehmung.
Zajontz: Wenn wir Heilbronn zu einem Ort mit Aura und Ausstrahlung machen wollen, dann muss diese natürlich in erster Linie von den Menschen vor Ort ausgehen. Sie sollen stolz sein auf das, was hier passiert und sich im Idealfall damit identifizieren und anderen Menschen von ihren positiven Erfahrungen berichten. Durch ein positiv besetztes Image werden Städte aus der Distanz wahrgenommen und können eine hohe Anziehungskraft auswirken. Da sind die Hochschulen, Startups und der Ipai aber definitiv auch in einer Bringschuld.
Was verstehen Sie unter Bringschuld?
Zajontz: Nehmen wir das Beispiel Ipai. Ein fantastischer Ort wird da erschaffen, der die Zukunft mitprägen soll und wird. Ok. Aktuell weiß ich nicht, was bisher dort konkret geschieht, wie die Pläne vorankommen und das KI-Ökosystem sich entwickelt. Für mich eher noch eine Blackbox. Wenn Sie mich fragen würden, ich hätte da nur eine vage Antwort parat. Hinzu kommt, dass das riesige Gelände am Rande der Stadt in der Nähe der Autobahn liegt. Warum planen wir nicht schon heute, das Gelände strukturell mit der Innenstadt zu verbinden, zum Beispiel mit einer öffentlich betriebenen Seilbahn, Und andersrum, dass das Ipai konsequent in der Innenstadt Präsenz zeigt. Wie das geht, zeigt zum Beispiel der neu gestaltet Urban Innovation Hub (uhi!) in der Fußgängerzone in Heilbronn. Das uih! ist ein lebendiger Treffpunkt für Forschung, Einzelhandel, Wirtschaft, Bildung, Stadtverwaltung und die Bevölkerung, um sich gemeinsam zu innovativen Lösungen und neuen Konzepten für die Weiterentwicklung Heilbronns auszutauschen. Das zieht Menschen an. Ein tolles Beispiel ist auch das KI-Festival der 42. Da wird wirklich versucht, die Stadtgesellschaft zu erreichen und der ganzen Familie etwas zu bieten.
Geilsdörfer: Dem kann ich viel abgewinnen und wahrscheinlich müssen wir den Fokus auch noch stärker auf solche Aspekte richten, zumal wir viel zu bieten haben. Das Ipai-Thema Künstliche Intelligenz trifft – Heilbronner Industriegeschichte hin oder her – den Nerv der Zeit. ChatGPT war da Ende vergangenen Jahres für viele Menschen fast schon ein Erweckungserlebnis. Plötzlich war KI nicht mehr nur das abstrakte Zeug, sondern hilft mir, einen Brief zu schreiben – oder bedroht meine Erwerbsgrundlagen als Journalist und Grafiker. Die Herausforderung ist jetzt, ein derart offenes Thema auch zu vermitteln und für ein breites Zielpublikum greifbar und verständlich zu machen. Was mich positiv stimmt ist, dass wir wirklich großartige Mitarbeitende für das Ipai gefunden haben, da ist ein tolles Team am Start – das in den kommenden Jahren noch weiter ausgebaut werden wird! Außerdem sind bereits über 70 unterschiedliche Unternehmen und zahlreiche Hochschulen und Forschungseinrichten mit dabei. Da kommt ein enormer Wissensschatz zusammen.
Frau Zajontz, Sie hatten die 42 angesprochen. Welche Rolle spielt die aus Ihrer Sicht für Heilbronn?
Zajontz: Die 42 unterscheidet sich deutlich von einer klassischen Hochschule. Von ihr geht heute schon ein ganz besonderes Flair aus. Ich erwarte, dass sie noch stärker zur Internationalisierung der Stadt beitragen und auch Lehr- und Lernformate in der ganzen Stadt bereichern wird. Die neue Kooperation zwischen der 42 und der Hochschule Heilbronn ist da eine wichtige Nachricht. Die Intensivierung der Kooperationen mit allen Hochschulen am Bildungscampus ist essentiell. Dazu muss es auch gelingen, dass sich die Studierenden mehr mit der Stadt, mit den Studierenden der anderen Hochschulen austauschen.
Geilsdörfer: Die 42 ist tatsächlich die größte Innovation, die wir als Stiftung hier angesiedelt haben. Die Schule verankert ein völlig neues Denken, für Heilbronn, aber auch weit darüber hinaus. Letztlich verbindet sie das Beste aus zwei Welten – der alten Hörsaal-Welt in Präsenz einerseits, und der digitalen Lerncommunity andererseits. Weil vorhin schonmal der Begriff Stolz gefallen ist: Heilbronn kann auch sehr stolz darauf sein, deutschlandweit die erste 42 aufgebaut zu haben.
Noch ein Blick auf die Politik: Wie empfinden Sie die Zusammenarbeit – und was würden Sie sich wünschen?
Geilsdörfer: Grundsätzlich muss ich sagen, dass wir wirklich starke Unterstützung erhalten. Sei der Bund, das Land oder die Kommune. Das vielstimmige Politikbashing ist aus meiner Sicht wirklich unangebracht. Was ich mir aber wünsche, ist etwas mehr Wagemut und Ehrgeiz. So wird mir gerade in Heilbronn oft gesagt: „Ach, Reinhold, was willst Du denn schon wieder, es ist doch alles gut.“ Und das stimmt ja auch! Uns geht es insgesamt nach wie vor exzellent. Aber dieser Wohlstand ist die schlimmste Droge, die macht passiv. Und wenn man sich die Aussichten für Kernindustrien wie Chemie und Auto anschaut, da weiß man, dass Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Sozialsysteme und Steuerhaushalte schon sehr bald extrem unter Druck geraten – und im Zweifel auch der gesellschaftliche Zusammenhalt.
Zajontz: Das ist mit Sicherheit richtig. Und deshalb werbe ich auch so stark dafür, hier Rahmenbedingungen zu schaffen, die Heilbronn nicht nur im regionalen Vergleich, sondern im Internationalen stärken. Das klingt zunächst abstrakt, aber da lassen sich unglaublich viele Dinge im Kleinen anschieben. Lasst uns Räumlichkeiten erschließen, in denen die jungen Menschen in Selbstverwaltung Abendprogramme gestalten können, wo Kleinkunst aufblühen kann. Lasst uns den Neckar in völlig neuer Art und Weise inszenieren, damit wir diesen wunderbaren Fluss noch besser in unsere Freizeitgestaltung integrieren können. So vieles ist möglich, aber da muss auch die Stadt forscher rangehen und solche Überlegungen konsequent mitdenken, auch im Rahmen von Bebauungsplänen. Wenn uns das gelingt, dann wird Heilbronn, diese Stadt mit diesem XXL-Potenzial, wirklich erblühen – und darauf freue ich mich!
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