Das IT-Raumschiff - Gastbeitrag von Andrew Müller

von 42 Heilbronn

Von Lagos nach Heilbronn

Immer wieder musste Olawale Ipadeola den Generator anschmeißen, wenn in Lagos der Strom aussetzte. Auch die Internetverbindung, unerlässlich zur Erfüllung seines Traums, stockte. Aber sein Wille, von Nigeria aus ins neue Spaceship zu kommen, war groß. Für die Aufnahmeprüfung hatte sich der 30-jährige Elektrotechniker im vergangenen Sommer extra ein paar Wochen freigenommen.

Die Prüfung dauert vier Wochen und heißt Piscine – französisch für Schwimmbad. Olawale schwamm jeden Tag im Becken der Computerprogramm-Codes: Von 9 bis 23 Uhr saß er vor dem Rechner und löste Programmier- Aufgaben. Die fünf anderen seiner Village, so heißen die Prüflingsgruppen, waren über den Globus verstreut und taten dasselbe. Nur wer die Motivation nicht verliert, Teamgeist hat und sein Wissen teilt, wird genommen. Ipadeola traf sich jeden Morgen mit  den anderen auf Zoom. Arbeitete hart. Absolvierte die Prüfungen am Ende jeder Woche. Hielt seinen Plan zunächst vor den Eltern geheim.

Das Spaceship trägt die Adresse Weipertstraße 8–10 in Heilbronn. In den Hallen ringsum werden Fahrräder, Küchen oder Sanitäranlagen verkauft. Hinter der zweistöckigen Backsteinfassade leuchten die Zugangsschranken zum „Raumschiff“ wie an einem modernen Flughafen. In den hellen, großen Räumen tun sich 150 Arbeitsplätze mit riesigen iMac-Computern auf. Daran sitzen junge Leute und bändigen lange Reihen von Zahlen, Buchstaben und Zeichen, die auf ihren Bildschirmen wuchern. Auf Wänden oder Meralchandise- Hoodies tauchen überall kleine Raketen auf. Und eine Zahl: die 42. Im Kultroman „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams ist das die Antwort auf alles.

42 Heilbronn ist eine Programmierschule. Das Mutterschiff wurde 2013 in Paris gegründet. École 42, Schule 42 also – eine Privatinstitution für die kostenlose Ausbildung von Software- Konstrukteuren der Zukunft. Von Frankreich aus breitet sich ein Netz neuer Standorte aus: Kalifornien, Ukraine, Marokko. Seit letztem Jahr auch Deutschland. Wie an allen Standorten der Franchise-Schule fehlen in Heilbronn Bücher, Klassen und Lehrer. Die Schüler unterrichten sich selbst. Im Prinzip kann sich jeder bewerben. Abitur: egal. Vorerfahrung: egal. Herkunft: egal. Nur volljährig muss man sein. Im IT-Bereich herrscht Fachkräftemangel. Deutschland braucht junge motivierte Programmierer.

Olawale Ipadeola hat viel investiert, um seinen Traum wahr zu machen. „Wenn du etwas wirklich willst, dann machst du so lange weiter, bis du sicher bist, dass du es nicht kriegst“, sagt er. Scheitern war also eine Option, aber er wollte sichergehen, dass es nicht an ihm liegt, sondern an den Umständen. Am Ende hat es geklappt: Seit August lebt er nun tatsächlich in Heilbronn.

Sein Stammplatz befindet sich im oberen Stockwerk, im ruhigsten der drei Cluster – so heißen hier die Arbeitsräume. Das Leuchten der Zeiger an Ipadeolas schwarz-glatter Uhr erzeugen Pixel: 19:21 Uhr. Er sitzt vor einem Riesenbildschirm und debugged. Fehler in einem Code finden und korrigieren ist eine mühsame Arbeit. Hinter jedem Buchstaben und jeder Zahl in den endlos wirkenden Abfolgen kann ein Fehler stecken, der das Programm stört. Manchmal bleibt Olawale Ipadeola bis tief in die Nacht. Die Schule ist immer offen. Es gibt sogar einen Raum, wo man sich zwischendurch hinlegen kann.

Eine Anzeige auf Ipadeolas Bildschirm lautet: „Black Hole absorption: 163 days left“. Daneben ein grün lächelnder Smiley. Außerhalb des Spaceships bedeutet Black Hole: Exmatrikulation. Olawale Ipadeola aber muss sich keine Sorgen machen – sein Wert lag noch nie unter 50, erst von 35 an beginnt der Smiley erschrocken zu schauen. Bei 0 ist man raus.

Die ganze Ausbildung ist wie ein Computerspiel gestaltet. Die Schüler meistern praktische Programmier-Projekte, steigen Level für Level auf. Bei Problemen hilft kein Professor, man tauscht sich mit den Peers aus – vor Ort und online. Auf der Plattform Slack gibt es einen „world channel“, über den man mit dem gesamten Netzwerk Kontakt aufnehmen kann. Hat man ausreichend Projekte erfolgreich abgeschlossen, ist die Grundausbildung zu Ende. Dann folgt ein Praktikum. Olawale Ipadeola hofft, bis zum Sommer so weit zu sein. Wie 40 Prozent der Schüler hat er ein Stipendium bekommen, das die Lebenskosten für ein Jahr deckt. Nur so bekam er überhaupt ein Visum. Das Geld kommt von der vermögenden Dieter-Schwarz-Stiftung und anderen Geldgebern wie Porsche und Audi, die 42 Heilbronn finanzieren.

Der Geschäftsführer Thomas Bornheim, 46, sieht die Welt der iPhones, Tesla und Programmierer als vielleicht letzte Möglichkeit Deutschlands, den Anschluss nicht zu verpassen. Nach 14 Jahren bei Google habe er dort die frühere Dynamik vermisst, sagt Bornheim. In Heilbronn will er sie wiederfinden – und selbst mit anschieben. Er betont die Kooperation mit der regionalen Industrie und die Nähe zum neu entstehenden Innovationspark Künstliche Intelligenz. Das Regierungspräsidium von Baden-Württemberg lehnt eine Akkreditierung seiner Schule bisher ab, aber das entmutigt Thomas Bornheim nicht. Er istsicher, dass die Abgänger auf dem Arbeitsmarkt gefragte Leute sein werden: „Wenn du in einem Wachstumsunternehmen bist, das viel mehr Probleme als Menschen hat, fragt keiner nach deinem Zertifikat.“

Ein Vorteil der Coronapandemie war für Olawale Ipadeola, dass er von seiner Heimat aus an der Piscine teilnehmen konnte. Auf Verdacht nach Heilbronn zu reisen, das hätte er sich nicht leisten können. Obwohl sein Gehalt als Betreuer der Elektronik eines Düngerproduzenten sehr gut war – für nigerianische Verhältnisse. Deswegen war sein Vater, als er später eingeweiht war, auch dagegen: Sein Sohn hatte doch einen guten Job, der ihm Spaß machte. Aber seine Mutter verstand, dass er seinem Traum vom Programmieren folgen musste. Eines Tages war auf seinem Laptop eine Werbeanzeige von 42 Heilbronn aufgeploppt. Er hatte zuvor nach Bildungsmöglichkeiten gegoogelt.

Ob das Auswahlverfahren auch weiterhin online stattfindet, ist noch nicht entschieden. Weniger privilegierten Bewerbern eine Chance zu geben sei eher ein Nebeneffekt der Schulphilosophie, sagt der Geschäftsführer Bornheim. „Diversity“ aber sei wichtig. Details im Innern des Spaceships bestätigen das: An den Toilettentüren steht „I Identify as a Man/ Woman“. In Gesprächen ertönt Englisch in allen möglichen Akzenten. Manche Schüler sind 18, andere in den 50ern. Frauen sind klar in der Minderzahl, das ist meist so im IT-Bereich.

Manche kommen direkt von der Schule, andere haben studiert, arbeiten bereits als Arzt oder kommen mit dem theoretischen Informatik- Studium nicht klar. Wenn sie in einer der Gemeinschaftsküchen beim Kaffee quatschen, glaubt man ihnen sofort, dass sie gern herkommen – manchmal nur auf eine Runde Tischtennis oder einen Kaffee. Fehlt jemand länger, von dem man weiß, dass er zum Versumpfen neigt, rufen ihn die anderen an:

„Komm her!“ Auch Nachhilfe geben helfe einem selbst beim Lernen.

Olawale Ipadeola fühlt sich in dieser Community gut aufgehoben. Wenn er Pausen macht, unterhält er sich mit neu gewonnenen Freunden. Als er im Rückblick den Moment der Zusage beschreibt, strahlt sein Gesicht. Auch die Erzählungen nigerianischer Freunde, die in Berlin leben, hatten seine Sehnsucht nach Deutschland angefeuert. „Ich bin lieber ein kleiner Teil eines großen Systems, das funktioniert, als ein großer Player in einem System, das nicht funktioniert“, sagt er.

Er lernt Deutsch, vermisst aber auch seine Heimat, das Essen zum Beispiel: Eba, Afang-Suppe und Efo riro. Ob Olawale Ipadeola in Deutschland bleibt, weiß er nicht. Die Geldgeber der Schule hoffen, talentierte Abgänger abgreifen zu können. Verpflichtungen gibt es keine: „Nach der Ausbildung habe ich die Freiheit, überall hinzugehen“, sagt Ipadeola. Das 42-Netzwerk kann er später ein Leben lang nutzen. Jetzt programmiert er sich erst einmal von einem Level ins nächste – ohne sich um Strom und Internet sorgen zu müssen.



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